Beethoven und die Philosophie : Musik, Dialektik und freie Improvisation 10. Virtuelles Bonner Humboldt-Preisträger Forum : „Beethovens ‚Geistiges Reich‘ ‚ Symbole des Vortrefflichen‘ in der Kunst und die kulturelle Politik des Widerstandes“

Intervenant : Alain Patrick Olivier

Bonn, Allemagne

Kann man ein musikalisches Werk und ein philosophisches Werk vergleichen ? Sind sie zwei ähnliche Erscheinungsformen des Geistes ? 2020 jährten sich Beethovens und Hegels Geburtstage. Der Musiker und der Philosoph lebten in der gleichen historischen Situation, die durch die Französische Revolution und den Beginn der Moderne geprägt war. Es mag paradox erscheinen, von einer Korrespondenz zwischen Hegels Philosophie und Beethovens Musik zu sprechen, denn die beiden sind sich nie begegnet, und es gibt keinen Beweis dafür, dass sie das Werk des jeweils anderen kannten. Hegel erwähnt in seinen Vorlesungen über Ästhetik die meisten Komponisten seiner Zeit, aber Beethoven erwähnt er nie, obwohl für den Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus gerade dieses Schweigen ein "beredtes" ist. Selbst wenn Hegel Beethovens Musik nicht gekannt oder nicht verstanden hätte, hindert uns das nicht daran, eine Übereinstimmung zwischen der Logik seiner Philosophie und derjenigen in Beethovens Musik herzustellen, insbesondere zwischen der Struktur der dialektischen Logik und der Struktur der tonalen Musik. Theodor W. Adorno schrieb, dass die Konfrontation zwischen Beethovens Musik und Hegels Logik keine Analogie, sondern die Sache selbst ist. Die (Beethoven’sche) Musik würde nicht nur kontingente Identitätsmerkmale der (Hegel’schen) Philosophie entlehnen, sondern das logische Konzept selbst in musikalischer Form darstellen. Wenn es diese Analogie gibt, so Adorno, sollte man ihre Formulierung nicht in den Ästhetik-Vorlesungen suchen, in dem, was Hegel über die Musik sagt, weil er auf diesem Gebiet keine Kompetenz hätte, sondern eher in der Logik oder der Phänomenologie des Geistes. Adorno und Dahlhaus stützen sich jedoch auf eine verfälschte Version der posthum herausgegebenen Ästhetik-Vorlesungen durch H. G. Hotho. Das Quellenstudium, das wir im Rahmen der Arbeit mit A. Gethmann-Siefert an der Fernuniversität in Hagen durchgeführt haben, zeigt, dass Hegel in seinen Vorlesungen Beethoven zwar nicht explizit zitiert, aber in die Debatte um die Instrumentalmusik eingreift und bestimmte Passagen, etwa zum Begriff des Themas, als Anspielungen interpretiert werden können. Es gibt einen Einblick in die dialektische Natur der Sonatenform. Aber es ist weniger die Analyse der thematischen Arbeit, welche in Hegels Vorlesungen die Verbindung zu Beethoven herstellt, sondern die Theorie des Künstlermusikers und die Konzeption der freien Improvisation. Für Hegel sind es die Sänger Rossinis und die Improvisationen Paganinis, die die Erfahrungen der musikalischen Improvisation ausmachen. Man könnte fast sagen, sie seien für ihn das Scheinen des absoluten Geistes. Doch könnten diese Beschreibungen auch auf Beethovens Musik zutreffen, denn die freie Improvisation war für seine Zeitgenossen – und auch für W. Kinderman – eine wesentliche Dimension seiner Kunst. Das Prinzip der Improvisation sei nach und nach aus der westlichen Kunstmusik verschwunden. Heute wird die Analogie zwischen der auf Improvisation basierenden Musik und der Dialektik der Philosophie eher in der Theorie der so genannten populären Musik konstruiert. Hört man Beethovens Musik und liest gleichzeitig die Improvisationstheorie Hegels, dann könnte man zu ganz anderen Schlüssen als Dahlhaus und Adorno kommen, was das Verhältnis von Musik, Dialektik und Freiheitsprinzip betrifft. Und wenn man bedenkt, dass Musik auch die Gesellschaft widerspiegelt, in der sie produziert wird, könnte diese Auffassung auch Möglichkeiten eröffnen, freieren Lebensformen zu denken, wie Beethoven es uns gelehrt hat.

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